Mittwoch, 25. September 2013
Wie wird man zum Stoiker?
Einmal angenommen wir versprechen uns von so etwas Angestaubtem wie der stoischen Philosophie und von so altertümlichen Charakteren wie Seneca und Marc Aurel tatsächlich Lebenshilfe und so etwas wie einen Weg zum Glück, so bleibt die Frage: Wie wird man denn nun zum praktizierenden Stoiker?
Der amerikanische Philosphieprofessor William B. Irvine beschreibt in seinem genialen Buch "A Guide to the Good Life" sehr strukturiert den Weg dorthin. Aus den Schriften der Stoiker extrahiert er zunächst eine Handvoll "Mentaltechniken", um dann weitere Anwendungen in verschiedenen Lebenssituationen zu beschreiben. Bei letzterem kommt er immer wieder auf eine Variation der vorgestellten Mentaltechniken zurück.
Diese sind:
1) Negative Visualisierung
"Denke nach, es könnte schlimmer kommen!" "Und ich dachte nach und es KAM schlimmer!" lautete ein bekannter Witz aus meiner Jugend. Der erste Teil jedoch beschreibt haargenau, was Irvine mit negativer Visualisierung meint. In jeder Lebenssituation ist es mir möglich meine Freude am Augenblick schlagartig zu erhöhen, wenn ich mir klarmache wie fragil unser Dasein ist. Vorstellungen wie "mein Kind könnte morgen tot sein!" oder "ich könnte genausogut im Rollstuhl sitzen!" führen bei dosierter Anwendung (und der richtigen Schlußfolgerung daraus) nicht etwa zu Depressionen und sorgenvollem Grübeln, sondern zu erhöhter Wertschätzung dessen was man hat. Wie oft gehen uns unsere Kinder auf die Nerven wenn wir ehrlich sind?
Machen wir uns aber klar, dass eine Zeit kommen wird, in der wir jeden dieser nervigen Augenblicke liebend gerne nocheinmal erleben würden (und sei es auch nur weil sie erwachsen geworden sind!) steigt die Freude an unseren Kleinen sofort.
Auf diese Weise habe ich schon oft scheinbar langweilige Augenblicke, öde Tätigkeiten und stumpfsinniges Herumgesitze in Augenblicke der Lebensfreude verwandelt.
2) Die Trichotomie der Kontrolle
Meiner Meinung nach das Herzstück der Stoa. Epiktet teilt die Dinge dieser Welt auf in jene über die wir Kontrolle besitzen und jene, über die wir keine besitzen. Diese Zweiteilung wird bei Irvine zu einer sinnvolleren Dreiteilung, indem er sagt:
a) Es gibt Dinge über die besitzen wir keine Kontrolle, wie beispielsweise das Wetter, andere Menschen, Tod und Krankheit etc.
b) Es gibt Dinge über die besitzen wir die volle Kontrolle, nämlich unsere Ansichten und Handlungen (und das waren sie im Übrigen auch schon ;-)).
und
c) Es gibt Dinge über die besitzen wir nicht die volle Kontrolle, aber einen gewissen Einfluss. Als Beispiel nennt er ein Tennisspiel. Ich habe keine Kontrolle darüber ob ich dieses Spiel gewinne oder nicht, aber ich kann durch die entsprechende Vorbereitung meine Gewinnchancen erhöhen.
Da die Stoiker sich natürlich nicht von äußerlichen Dingen wie Sieg oder Niederlage abhängig machten empfiehlt Irvine hier die Internalisierung von Zielen. In dem gewählten Beispiel des Tennisspieles ist daher nicht der Sieg das Ziel, sondern einfach das beste Tennis zu spielen, das mir in diesem Moment möglich ist.
Laut den Stoikern rührt das meiste Leid der Menschen aus dem Hadern mit und der Sorge um Dinge die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Und das sind ganz schön viele!
3) Fatalismus bezüglich Vergangenheit und unmittelbarer Gegenwart
Uhhhh...da ist es, das böse Wort. Ja, die Stoiker waren Fatalisten.Und nein, sie haben deswegen NICHT die Hände in den Schoß gelegt und alles dem Schicksal anheim gestellt. Ein Widerspruch? Nein, meint Irvine. Denn der Fatalismus der Stoiker bezog sich nur auf die Vergangenheit und die unmittelbar stattfindende Gegenwart. Genau genommen ist dies eine Anwendung der Trichotomy der Kontrolle (siehe oben). Denn sowohl die Vergangenheit als auch die jetztige Gegenwart sind Dinge die außerhalb jeglicher Kontrolle liegen. Allerdings beginnt meine, zumindest teilweise, Kontrolle bereits 1/2 Sekunde in der Zukunft.
Darum waren einige Stoiker (im Gegensatz zu dem Kyniker Diogenes) aktiv am Staatswesen und damit an der Zukunftsgestaltung beteiligt.
4) Selbstverleugnung, "the dark side of pleasure"
Noch ein böses Wort, "Selbstverleugnung" brrrrrr. In einem christlichen Kontext verursacht das Wort mir seltsamerweise Bauchweh und ich denke an salbungsvolle aufopfernde Nonnen und sich selbst zerstörende Verhaltensweisen. Bei den Stoikern jedoch schwingt etwas anderes mit, was man am ehesten als Training oder Vorbereitung bezeichnen könnte. Dinge wie zeitweise freiwillige Armut, Fasten, Schmerz ertragen und Selbstüberwindung im Sport haben weniger den Charakter eines himmlischen Tauschgeschäftes sondern sind ein Test für den eigenen Fortschritt im Stoizismus. Auf gar keinen Fall dürfen sie öffentlich gemacht werden um die eigene Überlegenheit unter Beweis zu stellen.
In seinem Handbuch sagt Epiktet an einer Stelle :"Wenn Du Durst leidest, nimm einen Schluck Wasser in den Mund, spucke ihn wieder aus und sage keinem was davon!"
5) Meditation im Sinne von Nachdenken und Selbstreflexion
Meditation im westlichen Kontext ist etwas anderes als die östliche Versenkung mit dem Ziel alle Gedanken vorbeiziehen zu lassen. Meditation bedeutet in diesem Zusammenhang: Über etwas nachdenken, reflektieren, von verschiedenen Seiten beleuchten. Und worüber dachten die Stoiker nach? Über ihren eigenen Fortschritt auf dem Weg zum stoischen Weisen. Bei Seneca gibt es eine regelrechte abendliche Gewissensprüfung anhand eines Fragenkataloges, während Mark Aurel ein Tagebuch mit Selbstermahnungen führte. Diese sind uns bis heute als seine "Selbstbetrachtungen" erhalten.
Wer auf Selbsterfahrung steht, und diese Techniken mal ausprobieren möchte, dem empfiehlt Irvine auf keinen Fall jetzt mit allen fünfen durchstarten zu wollen. Zunächst solle man es mal mit der negativen Visualisierung versuchen, und danach mit der Trichotomy der Kontrolle. Besonders in letzterem, konsequent zu Ende gedacht, liegt das Potential für einen Quantensprung im Denken. Versucht mal einen Arbeitstag lang, Euch nur um die Dinge Sorgen zu machen, die wirklich in Eurer unmittelbaren Kontrolle liegen, nämlich EUER Denken und EUER Handeln.
Das war natürlich nur ein oberflächlicher kurzer Abriss. Irvine ist in seiner Argumentation weitaus eloquenter, daher empfehle ich sein Buch wärmstens!
Hier gibt es übrigens noch einen Abriss des Buches aus einem anderen Blickwinkel!
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Guter Zusammenfassung des Buches!
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