Tugenden sind in und das ist gut so. Während zum einen das Christentum an Deutungs- und Bindungskraft verliert, versuchen die Menschen in der westlichen Hemissphäre das entstehende Werte-Vakuum neu zu füllen.
Ein dahingehender Versuch der mir dabei immer wieder begegnet und mit dem ich mich selbst teilweise identifizieren kann ist das Ideal des Gentleman.
In der Astronomie gibt es den Trick an einem Himmelsobjekt knapp vorbei zu schauen um es deutlicher zu erkennen. Das hängt wohl mit der Lage gewisser Rezeptoren im Auge zusammen.
Auf ähnliche Weise kann man auch den Gentleman betrachten um den Stoiker besser zu verstehen, haben sie doch vieles gemeinsam.
Der Gentleman ist unabhängig, und doch achtet er genau auf seinen Umgang mit Anderen. Er trachtet danach, das Gegenteil dessen zu verkörpern, was ihn an anderen abstößt. Wichtiger als die Herrschaft über andere ist ihm die Herrschaft über sich selbst. Er pflegt seine Tugenden nicht um andere zu beeindrucken, sondern um sich selbst gegenüber treten zu können. Das ist die Quelle seines Selbstwertgefühls.
Er ist höflich, mutig, klug, maßvoll und Fair Play geht ihm über alles. Hier finden wir sie wieder die 4 Tugenden der alten Griechen:
Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit.
Betrachten wir Mark Aurel, so finden wir in seinen Selbstbetrachtungen viele Passagen, die sich dem Umgang mit seinen Mitmenschen widmen. Dadurch eignet sich dieses Büchlein auch als Handbuch für den Gentleman.
Allerdings ist der Gentleman ein Ideal, das mit positiven Eigenschaften geradezu überfrachtet ist. Dadurch wird er unscharf und stellenweise auch widersprüchlich. So unabhängig wie er sein soll, so abhängig ist er doch von dem Bilde das Andere von ihm haben. Da er sich selbst nie als Gentleman bezeichnen würde (aber trotzdem einer sein möchte) wird sein Ziel möglicherweise sein, dass Andere ihn als solchen bezeichnen. Hier verliert er allerdings schnell den Boden unter den Füßen und macht sich erpressbar ("Wie? Du tust XY nicht? Ich dachte Du wärst ein Gentleman?)
Ein klarer Unterschied zum Ideal des stoischen Weisen ist das Verhältnis zu Frauen. Hier wird vom Gentleman eine romantisierte ritterliche Galanterie erwartet. Auch hier muss er acht geben, nicht einem weit verbreiteten Bild entsprechen zu wollen, das so vielschichtig ist, dass es kaum zu erfüllen ist. Das bedeutet nicht, dass er seiner Herzensdame keine Gefühle zeigen darf, oder Frauen schwere Gegenstände alleine schleppen lässt. Aber er achtet immer darauf, dass sein Tun dem Augenblick angemessen ist, und er tut es um der Belohnung willen die in der Handlung selbst liegt, und nicht aus (sexuellem) Kalkül.
Leider wird in der Werbung und im Internet noch ein Aspekt des Genteman-Ideals verbreitet, das nur einem Zweck dient: Verkaufen.
Hier wird der Gentleman als ein Mann dargestellt, der sich immer in den teuersten Zwirn der am meisten etablierten Maßschneider kleidet, der sich mit erlesenen Uhren, Autos, Häusern, Wein, Whiskeys, Zigarren etc. umgibt und der aufgrund dieser Tatsachen permanent von schönen Frauen umringt ist. Dazu noch ein bisschen seichtes Self-Development für den beruflichen und privaten Erfolg und fertig ist der Gentleman.
Hinter diesem Bild steht natürlich die allmächtige Werbeindustrie.
Leider ist dieses Schönwetter-Ideal auch nicht tragfähig für Krisenzeiten, denn dieser Gentleman braucht vor allem zwei Dinge: Geld und Publikum, also Dinge die man ihm jederzeit nehmen kann.
Der stoische Weise dagegen ist zwar kein Asket und Kostverächter (siehe Seneca). Allerdings ist er durch seine innere Unabhängigkeit in der Lage auch ohne den schönen äußerlichen Schein gut und glücklich zu leben.
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