Darstellung Senecas im Chorgestühl des Ulmer Münsters; Quelle: Wikipedia
"Manche Dinge werden immer wieder neu
entdeckt!" So oder so ähnlich lautete kürzlich ein Kommentar hier im Blog.
Und das stimmt! Je mehr man sich mit Philosophie und
Religion, oder auch "Lebenshilfe" befasst, desto klarer wird einem,
dass es nur noch wenig Neues unter der Sonne geben kann. Alle Gedanken wurden
so oder so ähnlich schon einmal formuliert.
Was mir merkwürdig erscheint, und worüber ich
gestolpert bin, ist, dass die gleichen Verhaltensweisen unter den einen
Grundannahmen krank machen, während sie unter anderen Prämissen Spaß machen und
Leib und Seele zusammenhalten.
Hier hatte
ich schon einmal etwas über den qualitativen Unterschied zwischen
Selbstverleugnung aus religiöser Sicht und Selbstverleugnung aus sportlicher
und den Genuss steigernder Sicht
anklingen lassen.
Interessanterweise scheinen Stoa und Christentum sich in der Antike gegenseitig beeinflusst zu haben, was soweit ging, dass es sogar einen
(gefälschten) Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus gibt.
Viele Ansichten im Katholizismus sind
der Stoa zunächst mal ganz ähnlich. So zum Beispiel, dass es in der
eigenen Verantwortung liegt die Kardinal-Tugenden Tapferkeit, Mäßigung,
Gerechtigkeit und Weisheit zu entwickeln. Dass man sich in Gottes Wille ergeben
soll, quasi das eigene Schicksal akzeptieren. Dass Askese wie Fasten, barfuß laufen,
zu kalt angezogen zu sein, freiwillige Armut etc. den Geist und den
Willen stärken für kommende Herausforderungen. Die Spannung zwischen aktivem
tätig sein für das Gemeinwesen und dem kontemplativen Rückzug.
Was für mich persönlich allerdings der entscheidende
Unterschied zwischen Stoa und
Katholizismus ist, ist das drauf pfropfen eines
persönlichen, liebenden Gottes, der sich um jeden einzelnen Menschen kümmert.
Ab diesem Moment kommt nämlich zur Selbstverantwortung
und Willensfreiheit des Menschen noch eine ungute Komponente hinzu, die all diesen Übungen einen unheilsamen Aspekt hinzufügt.
WENN es diesen Gott gibt, den ich auch lieben soll,
warum mutet er mir dann überhaupt dieses oder jenes Schicksal zu? Warum hat er
mich dann so fehlerhaft gestaltet, dass ich die Tugenden nicht automatisch
liebe?
WENN es ihn gibt, ist er denn zufrieden mit meinen
asketischen Übungen? Und tue ich sie dann nicht auch weil ich ein sündiger
Mensch bin? Und sollte ich dann nicht mein ganzes Leben büßen wie Luther gesagt
hat? Kommt dann zu dem Aspekt "Askese als Training" nicht doch der
des körperfeindlichen Selbsthasses
hinzu?
WENN es diesen Gott gibt, wie ihn die Bibel
beschreibt, kann ich dann noch sagen: Ich habe keine Kontrolle über das Handeln
meiner Mitmenschen? Ist das dann nicht eine Form des Kainschen: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Muss
ich mich dann nicht aus lauter Mitleid um alles und jeden kümmern, egal ob ich
mich dabei aufreibe? Viele Beispiele dafür finden sich in den Lebensgeschichten
der sogenannten Heiligen!
Ein weiterer, entscheidender Aspekt für mich ist, dass
die Stoa ein durchweg positives
Menschenbild vertritt. Der Mensch ist zur Erkenntnis des Guten fähig, hat die
Freiheit sich für da Gute zu entscheiden, und ist gleichzeitig endlicher Mensch, der sich nicht um alles
und jeden kümmern kann. Stößt ihm etwas Schlimmes zu, ist es nun mal Schicksal
aber er hat alle Ressourcen in sich, um damit umzugehen.
Das Christentum behauptet von sich ebenfalls, ein
positives Menschenbild zu vermitteln. Aber hier beruht es zum einen ganz auf
der Gottesebenbildlichkeit, d.h.
aus sich selbst heraus ist der Mensch erst mal Garnichts.
Zum anderen habe ich in Predigten und Fürbitten immer
das Gefühl, dass das Christentum zunächst mal defizitorientiert ist.
Da ist immer von den Gebrochenen, und den Beladenen und den Kranken und
Schwachen, und den Arbeitslosen und…und… und… die Rede. Und kein Wort davon,
dass diese vielleicht selbst Ressourcen haben sich aufzurichten, nein, das kann
nur der liebe Gott! Es ist immer alles so verjammert, so dauerbetroffen.
Der Gipfel des Ganzen bestand darin, dass eine Dame die sich selbst
offensichtlich gerne als die Kummertante de Kirchengemeinde sah regelmäßig
leicht enttäuscht schien, wenn ich ihr auf die Frage nach meinem Befinden die
Antwort:"Gut, danke!" gab.
Darüber hinaus werden in Predigten immer wieder Dinge
angesprochen und angemahnt, die nach der Trichotomie der
Kontrolle nun WIRKLICH außerhalb unserer Möglichkeiten liegen, wie der
Bürgerkrieg in Turkmenisch-Abchasien, die Menschenrechtsverletzungen in Rajputtistan, der Hunger in Kongolesien und
überhaupt der gesamte Weltfrieden. Dadurch entsteht meines Erachtens eine
psychische Spannung zwischen Können und Sollen, die nicht aufgelöst wird.
Nicht falsch verstehen! Es geht hier nicht um eine
Ethik des Nichthelfens. Seneca hat ausdrücklich die Hilfe für die Mitmenschen
befürwortet. Wenn wir uns im Sinne der Stoiker als eine große Familie sehen,
geht das auch gar nicht anders. Allerdings Hilfe zur Selbsthilfe, mit Verstand
und Augenmaß, und vor allem ohne sich in den Jammerstrudel über die schlechte
Welt mit hineinziehen zu lassen.
Mir ist auch klar, dass beispielsweise im sogenannten Gelassenheitsgebet
eine christliche Komponente der Trichotomie der Kontrolle existiert. Dass auch
immer wieder darauf hingewiesen wird beide Pole, Aktion UND Kontemplation, zu
leben.
Ich kann für mich nur sagen: Mich hat die
Installation eines himmlischen Vaters in meinem Kopf eher gehemmt und krank
gemacht, denn da war plötzlich einer der irgendwie nie zufrieden zu sein schien
mit meinen Fähigkeiten als endlicher Mensch.
Heute bin ich nur mir selbst und meinen Werten
Rechenschaft schuldig, und mein Leben ist kein bisschen weniger erfüllt oder
sinnvoll.